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BITV 2.0 in Kraft

BITV 2.0 in Kraft

Am heutigen 22. September 2011 ist die Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung (BITV) 2.0 in Kraft getreten. Ein Kommentar von Jan Eric Hellbusch.

Am heutigen 22. September 2011 ist die Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung (BITV) 2.0 in Kraft getreten. Gestern wurde sie im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. Die BITV 2.0 wurde auf der Grundlage des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) aus 2002 vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales erlassen.

Das BGG ist ein deutsches Bundesgesetz und die BITV 2.0 eine Verordnung, die sich auf dieses Bundesgesetz bezieht. Die BITV 2.0 gilt für Webangebote und öffentlich zugängliche Intranetangebote sowie für sonstige grafische Programmoberflächen der Bundesverwaltung. Die BITV 2.0 verwendet als technischer Standard die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.0 des W3C und enthält eine Übersetzung dieser Webstandards in Anlage 1.

Unterschiede zwischen WCAG 2.0 und BITV 2.0

Es ist zu begrüßen, dass die BITV 2.0 endlich veröffentlicht wurde. Damit wird die Vorgängerversion aus 2002 außer Kraft gesetzt, und die bereits 2008 veröffentlichten WCAG 2.0 werden als Maßstab für Internetangebote des Bundes herangezogen. Es gibt allerdings Unterschiede zwischen WCAG 2.0 und BITV 2.0, die durchaus praktische Probleme mit sich bringen können. Einige markante Aspekte sind:

  • Die WCAG 2.0 enthält als Webstandard neben den konkreten Anforderungen für ein barrierefreies Webdesign etliche weitere normative Bestimmungen, die in der BITV 2.0 nicht aufgenommen wurden. Sie finden sich bestenfalls in der Begründung zur BITV 2.0. Beispielsweise enthalten die WCAG 2.0 auch Konformitätsbedingungen; ein Verstoß bedeutet, dass eine Konformität zur WCAG 2.0 gar nicht mehr möglich ist. Nach Konformitätsbedingung 5 wird z.B. der Gedanke des progressive Enhancement (fortschreitende Entwicklung) postuliert, in der BITV 2.0 findet sich diese Voraussetzung der Barrierefreiheit nicht wieder.
  • In der WCAG 2.0 gibt es drei Konformitätsstufen (A, AA und AAA) und in der BITV 2.0 finden sich zwei Prioritäten wieder: Priorität I umfasst die Anforderungen der Konformitätsstufen A und AA und Priorität II umfasst die Anforderungen der Konformitätsstufe AAA. Grundsätzlich ist hiergegen nichts einzuwenden, denn die Bundesregierung verpflichtet sich dadurch zur Erreichung der Konformitätsstufe AA. Allerdings wird das Konzept der Konformitätsstufen nicht übernommen. Während nach der WCAG 2.0 die Barrierefreiheit in der Erreichung einer bestimmten Konformitätsstufe ausgedrückt wird, fehlt dieses Konzept in der BITV 2.0. Die Überprüfung bzw. die Zertifizierung der Barrierefreiheit wird somit aus der BITV 2.0 hinaus katapultiert.
  • Kern der WCAG 2.0 sind natürlich die 61 Erfolgskriterien. Diese wurden weitgehend in der BITV 2.0 als Bedingungen übernommen. An zwei Stellen gibt es deutliche Abweichungen: In Erfolgskriterium 3.1.5 wird das Thema "Leseniveau" durch "einfache Sprache" ersetzt und Erfolgskriterium 2.4.8 erhält die Priorität I, obwohl es sich bei dieser Bedingung um ein Erfolgskriterium der Konformitätsstufe AAA handelt. Ansonsten ist die Übersetzung der WCAG 2.0 in der Anlage 1 der BITV 2.0 vergleichbar mit der offiziellen deutschen Übersetzung der WCAG 2.0 des W3C. Allerdings sind die normativen Anmerkungen der WCAG 2.0 in die Begründung der BITV 2.0 verschwunden. Einige weitere Abweichungen hat Kerstin Probiesch kommentiert.
  • Noch ein Konzept der WCAG 2.0, das in der BITV 2.0 nicht übernommen wurde, ist die Einbeziehung nicht normativer Inhalte. Zu jedem Erfolgskriterium der WCAG 2.0 gibt es Links zu zusätzlichen Dokumenten, in der Techniken beschrieben und Erläuterungen geboten werden. Diese zusätzlichen Dokumente sind informativ und werden regelmäßig aktualisiert, d.h. dort wird der technische Fortschritt berücksichtigt, und neue Technologien werden aufgenommen, sobald sie barrierefrei umgesetzt werden können. Die WCAG 2.0 ist somit langfristig angelegt. Die BITV 2.0 verweist allerdings nicht auf diese Dokumente und bietet keine Perspektive, eine solche, durchaus sinnvolle und erforderliche Dokumentation aufzubauen.
  • Die BITV 2.0 umfasst in Anlage 2 weitere Anforderungen zur Leichten Sprache und zur Gebärdensprache. Da es sich bei der BITV 2.0 um eine Selbstverpflichtung des Bundes zur Barrierefreiheit handelt, können diese zusätzlichen Anforderungen nur begrüßt werden. Kritisch ist nur anzumerken, dass die Anforderungen der Anlage 2 im Gegensatz zu den Bedingungen größtenteils nicht überprüfbar sind.

Diese Liste ist nicht erschöpfend, zeigt aber einige Defizite der BITV 2.0 auf. Praktisch gesehen kommen Webentwickler nicht an den Techniken zur WCAG 2.0 vorbei, wenn sie Barrierefreiheit nach dem Stand der Technik umsetzen wollen. Solange die Techniken nicht aus den Augen verloren werden steht einer Erreichung der Konformitätsstufe AA der WCAG 2.0 (Priorität I der BITV 2.0) nichts im Wege.

Drohende Fragmentierung in Deutschland

In der Zeit nach dem Inkrafttreten der ursprünglichen BITV wurden in Deutschland nicht nur Landesgleichstellungsgesetze verabschiedet, sondern auch länderspezifische IT-Verordnungen. Teilweise weichen die anzuwendenden Standards der Länder-Verordnungen von der Bundes-BITV ab. Diese Fragmentierung von Regelwerken ist grundsätzlich kontraproduktiv. Nicht zuletzt sind die Nutzer mit Behinderungen mit unterschiedlichen Qualitätsniveaus von Webseiten konfrontiert.

Während manche Bundesländer ein automatisches Update in der Länder-BITV haben und die aktuelle Bundes-BITV übernehmen, müssen in den meisten Bundesländern eine neue BITV mit aktuellen anzuwendenden Standards erlassen werden. Hoffentlich muss die Diskussion nicht nochmal von vorne begonnen werden.

In den deutschen Bundesländern sollte die BITV 2.0 bzw. die Anlage 1 der BITV 2.0 übernommen werden. Die WCAG 2.0 stellt die objektiv bessere Wahl dar, aber wenn schon auf Bundesebene zur WCAG 2.0 abgewichen wird, dann würden Abweichungen auf Länderebene im Vergleich zur Bundesebene die Fragmentierung weiter fördern. Wenn nicht weltweit, dann sollte zumindest auf nationaler Ebene die Harmonisierung der Regelwerke angestrebt werden.

Kommentare

Detlev Fischer
am 22.09.2011 - 17:30

Kommentar von Detlev Fischer, BIK Testentwicklung:

Danke für die Zusammenfassung.

Dass die 5 Konformitätsanforderungen und die Beschreibung und Definition von "Barrierefreiheit unterstützend", ebenso wie die Behandlung von Alternativversionen, in die Begründung der BITV ausgelagert wurden und nicht im Verordnungstext selbst stehen, haben wir seinerzeit kritisert und finden wir immer noch ungünstig.

Da man die drei Konformitätsstufen der WCAG so nicht hat übernehmen wollen, passt der ganze Teil zu Conformance natürlich nicht unverändert zur BITV.

Ich habe auf bitvtest.de versucht, darzustellen, warum die Unterschiede zwischen BITV 2.0 und WCAG 2.0 aus praktischer Sicht dennoch nicht gravierend sind: Ist die BITV 2.0 überflüssig?

Ein Artikel zum Problem der Übernahme der Konformitätsanforderungen wird noch folgen.

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